Kurz & bündig
- Betriebsblindheit verhindert Verbesserungen in der alltäglichen Arbeit und kann zu Ineffizienz und massiven Mehrkosten führen.
- Je langsamer sich ein Problem einschleicht und ausbreitet, desto weniger wird es beachtet. Es erfolgt eine Gewöhnung, aus «schlecht» wird dann «normal».
- Erfreulich ist: Sofern Wille zur Veränderung vorhanden, ist diese Betriebsblindheit durch Inputs von aussen (Beratung) jedoch überwindbar.

Betriebsblindheit – was heisst das eigentlich genau? Gemäss Wikipedia wird damit «… eine routinemässige Arbeitsweise bezeichnet, an der keine Selbstkritik geübt und keine Veränderungsmöglichkeit gesehen wird. Im laufenden Produktionsprozess kann sie zu geringerer Effektivität und somit zu einem Wettbewerbsnachteil führen. Eine Betriebsblindheit kann in der Regel nur durch Anstösse und Impulse von aussen erkannt und verändert werden.»

Nehmen wir als Beispiel die Klauengesundheit einer Herde – von zentraler Bedeutung für die Milchleistung, die Höhe der Futteraufnahme, die Erkennung von Brunstsymptomen. Das wissen wir alle.

Und wir wissen eigentlich auch, was zu tun ist: Funktionelle Klauenpflege, regelmässiger Herdenschnitt, Kontrolle der Klauen beim Trockenstellen, Kontrolle auffälliger Tiere im Klauenstand – alles hundertfach erklärt, demonstriert und diskutiert. Allgemeingut in Berufsschulen, Seminaren und Zeitschriften.

Und trotzdem: Basierend auf den Ergebnissen vieler Studien geht in Milchviehbetrieben fast jede fünfte Kuh lahm. Wie kann das sein? Es liegt erwiesenermassen nicht an der hohen Erkrankungsrate oder der langsamen Abheilung. Ganz offensichtlich haben sich viele Betriebsleiter schlicht an lahme Kühe gewöhnt.

Eine, wenn nicht sogar die entscheidende Ursache dafür wurde vor kurzem in einer Übersichtsarbeit von John Mee, einem profilierten irischen Wissenschaftler, thematisiert: Betriebsblindheit. Daraus ergeben sich fatale Folgen für das Tierwohl und die Produktionsergebnisse und somit hohe finanzielle Verluste. Viele betrachten Betriebsblindheit inzwischen als die wichtigste Kostenfalle auf dem Betrieb.

Bedeutet «nicht notiert» einfach «nicht passiert»?!

Was aber sind die Ursachen für Betriebsblindheit? Ein zentraler Punkt ist, dass Probleme entweder nicht erkannt oder dass die Konsequenzen von Problemen unterschätzt werden. Als weiteres Beispiel drei Fragen, die wichtige Kennzahlen zur Beurteilung der Kälberaufzucht auf dem Betrieb liefern:

  1. Hat sich die Anzahl totgeborener Kälber in den letzten 12 Monaten erhöht?
  2. Wie viele Kälber sind im letzten Jahr in der Tränkephase verendet bzw. eingeschläfert worden?
  3. Was wiegen die Kälber direkt nach dem Abtränken?

Drei Fragen, die für die Produktivität der späteren Milchkühe zentrale Bedeutung haben: Je häufiger die Kälber erkranken, je geringer die Tageszunahmen, je höher die Tierverluste – desto weiter geht die Schere auseinander zwischen dem genetischen Potenzial der Tiere und dem, was sie später im Alltag tatsächlich leisten.

Und obwohl diese drei Fragen so wichtig sind, kennt die Mehrzahl der Landwirte diese Zahlen schlicht nicht. Es wird halt viel zu wenig aufgeschrieben. Und das ist fatal, denn was nicht aufgeschrieben wird, geht in kürzester Zeit vergessen. Es wird unsichtbar, hat nicht stattgefunden und wird später nicht mehr als Problem wahrgenommen. Und die Konsequenz ist, dass eine zentrale Schraube für die Optimierung der Wirtschaftlichkeit (hier die Jungviehaufzucht) ignoriert wird und die Betriebsergebnisse unterdurchschnittlich sind, obwohl Verbesserungen mit einfachen Massnahmen möglich wären.

Wenn auf dem Betrieb «schlecht» zu «normal» wird

Eine zweite wichtige Ursache für Betriebsblindheit ist das Ignorieren von offensichtlichen Problemen im Alltag. Dass die Zellzahl nun schon seit Monaten zu hoch liegt, dass die Kühe durch ungenügende Liegeboxenpflege dreckig sind, dass die Kälber meistens in den ersten Wochen Durchfall haben – all das lässt sich ausblenden, weil es ja irgendwie trotzdem im Alltag weiterläuft.

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Je langsamer sich ein Problem einschleicht und ausbreitet, desto weniger wird es beachtet. Es erfolgt eine Gewöhnung, ein schlechter Zustand wird so zur neuen Normalität. Und schliesslich flüchtet man sich in Ausreden: «Es geht halt nicht anders – wo viel Licht, ist auch viel Schatten!» – als seien Missstände unvermeidbar. Äusserst konsequent wird dabei ausgeblendet, dass es durchaus Betriebe gibt, die sehr wohl eine vorbildliche Klauen- und Eutergesundheit haben, deren Kälber optimale Tageszunahmen haben usw.

Der Mensch als «Gewohnheitstier»

Betriebsblindheit ist im Grunde ein überaus menschliches Verhalten. Auch im Alltag von Normalbürgern ohne Bezug zur Landwirtschaft spielt Betriebsblindheit eine wesentliche Rolle. Liebgewordene Routinen werden weiterhin gepflegt, obwohl der fatale Effekt verschiedener Gewohnheiten auf die Gesundheit oder das Haushaltseinkommen hinlänglich bekannt sind.

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Sei es das Rauchen, die übergrosse Mahlzeit am Abend, die fehlende Bereitschaft zum Wechsel des Energieanbieters – alles letztlich falsche Entscheidungen mit langfristigen, ebenso negativen wie vermeidbaren Konsequenzen. «Der Mensch ist ein Gewohnheitstier», wie der Volksmund weiss.

Was interessieren mich heute die Probleme von morgen?

Aber wieso gelingt es uns so schwer, rational und angemessen auf Problemstellungen zu reagieren und Missstände abzustellen? Dafür entscheidend ist, dass aus den Fehlern kein kurzfristiger Leidensdruck entsteht. Ein krankes Kalb behandeln zu müssen, ist ärgerlich und kostet etwas Zeit und Mühe – ist aber keine wirkliche Katastrophe im Alltag.

Und noch etwas spielt eine Rolle: Potenzielle Gewinne durch frohwüchsige, gesunde Kälber zeigen sich erst in mehreren Jahren, wenn diese Tiere laktieren – und das ist noch so lange hin, dass man darüber heute nicht nachdenken kann – oder will. Akute Probleme heute, z. B. der Ausfall der Waage am Futtermischwagen, erscheinen viel bedeutsamer als relativ abstrakte spätere finanzielle Vorteile.

Und so erklären sich scheinbare Widersprüche: Jeder weiss seit Jahr und Tag, dass die erste Versorgung des Kalbes mit Kolostrum lebenslange Konsequenzen für Immunsystem, Wachstum und Leistung im späteren Leben hat. Und trotzdem sind, je nach Studie, 30 bis 60 Prozent der neugeborenen Kälber nicht ausreichend mit Biestmilch versorgt.

Eine «Heilung» bei Betriebsblindheit ist möglich!

Die gute Nachricht ist: Betriebsblindheit ist kein unabänderliches Schicksal, sondern kann aktiv reduziert oder gar beseitigt werden.

  • Eine zentrale Voraussetzung dafür ist die Bereitschaft, die eigenen Routinen infrage zu stellen – denn grundsätzlich macht eine Beratung nur Sinn, wenn diese auch erwünscht ist!
  • Im nächsten Schritt ist ein unabhängiger «Blick von aussen» notwendig. Das kann eine Fachperson vom Tiergesundheitsdienst oder der Erzeugerberatungsring sein – gerne aber auch ein erfolgreicher Berufskollege, zu dem man Vertrauen hat. Die Einbindung des Bestandestier-arztes ist ebenfalls sinnvoll, denn auch dieser kann aufgrund der Erfahrungen wesentlichen Input leisten.
  • Daraus wiederum ergibt sich eine Checkliste mit dem Status quo auf dem Betrieb und detaillierten Empfehlungen und Zielsetzungen, um spezifische Verbesserungen zu erreichen.
  • Diese gilt es nach etwa drei Monaten zu überprüfen: Hat sich ein Erfolg eingestellt oder nicht? Sind weitere Nachjustierungen erforderlich?

Viel zu häufig schauen wir auf die Dinge, die bei anderen falsch gemacht werden. Viel zu häufig ereifern wir uns über teils banale Fehler beim Nachbarn, viel zu häufig unterlassen wir das Hinterfragen der eigenen Routinen – und viel zu selten versuchen wir zu erkennen, was auf guten Betrieben der Schlüssel für die Erfolge ist. Wenn es gelingt, das zu ändern, so ist ein entscheidender Schritt für künftigen Erfolg schon getan.